Bildende Kunst/Design

EXPO 2010: Evols urbane Balanceakte

EVOL: Plattenbauten, Spray paint on dis-used electrical cabinet, Courtesy the artist and WILDE Gallery, Berlin
EVOL: Plattenbauten, Spray paint on dis-used electrical cabinet, Courtesy the artist and WILDE Gallery, Berlin
Evol: Plattenbauten, Spray paint on dis-used electrical cabinet, Courtesy the artist and WILDE Gallery, Berlin

Unter dem Motto „balancity – eine Stadt im Gleichgewicht“ präsentiert sich Deutschland auf der Anfang Mai 2010 beginnenden EXPO Shanghai. Zu Fuß auf Rollbändern oder über Rolltreppen bewegen sich die Besucher des Deutschen Pavillons durch inszenierte Stadträume, Unterwasserwelten, eine Fabrik, ein Stadtplanungsbüro und eine sogenannte Energiezentrale. Sechs Künstler wurden ausgewählt, um für jeweils einen Monat die Utopie einer Stadt zu bespiegeln, in der ein „Gleichgewicht zwischen Erneuern und Bewahren, Innovation und Tradition, Stadt und Natur, Gemeinschaft und Individuum, Freizeit und Arbeit“ herrscht, so der Pressetext. Die Ausstellungsreihe beginnt mit dem Schablonen-Künstler Evol. Auf den ersten Blick mag die Auswahl für das unleugbare kreative Störpotential seiner Arbeiten irritieren.

“An Berlin schätze ich“, erzählt Evol, „dass viele Gebäude noch die Geschichte der Stadt und der Menschen erzählen. Und natürlich erzählt eine unrenovierte Fassade mehr, als eine frisch gestrichene. Ich laufe bei meinen Spaziergängen quasi durch die Kapitel eines Buchs.” Warum Evol vor nunmehr fast 10 Jahren den ehemaligen Ostteil Berlins und dort den Bezirk Friedrichshain als Heimat wählte, wird sehr schnell deutlich, wenn man seine auf gefundene Pappen und Umzugskartons gesprayten Hausfassaden sieht. Seit Jahrzehnten ungestört den Spuren der Zeit ausgesetzt, erzählen zahlreiche Straßen- und Hinterhausfronten des einstigen Arbeiterbezirks Geschichten, die das Leben schrieb. Nachdem die Hausbesetzerszene die vielen leerstehenden Wohnungen für sich entdeckte folgten Ende der 1990er Jahre Berlins Kreative, unter ihnen Künstler wie Evol. Wohn- und Atelierraum gab es für wenig Geld. Niedrige Ladenmieten lockten Jungdesigner und andere Existenzgründer. Cafés mit Mobiliar vom Trödel verbreiten existentialistischen Charme. Der rasant gestiegene Prestigewert des Bezirks beendet zusehends auch dieses Kapitel.

Bierbäuchig schultert ein Arbeiter einen Umzugskarton, vor ihm steht die Sackkarre. Ein Mann der Tatkraft. In wässrigem Blau auf einen eben solchen Karton gedruckt, ist die Szene mit dem Bibelzitat „Einer trage des anderen Last“ untertitelt. Ein Fundstück, das Evol verständlicherweise begeistert. Grob aufgerissen, überträgt er in siebdruckähnlicher Technik – allerdings mit Hilfe von Spraydosen und Schablonen! – in 15 Schichten die Fenster einer zuvor abfotografierten schäbigen Häuserfront ins Bild des Lastenträgers. Der Dialog zwischen Werbedruck und künstlerischer Intervention beginnt: Wer zieht hier aus und wohin, freiwillig oder etwa, weil eine Modernisierung die Miete unbezahlbar macht? Wer trägt hier wessen Last? Evol übernimmt mit seinen Arbeiten, aber auch mit seiner im Internet allgemein zugänglichen Fotostrecke „Evoldaily“ die Rolle eines Chronisten, eines Chronisten der ansonsten zumeist Übersehenes archiviert. Abbröckelnder Putz und andere wenig repräsentative Details an Gebäuden, achtlos auf der Straße liegender Müll und sogar Hundekot werden untertitelt verewigt. Korrespondenzen zwischen Fotos aus Berlin und anderen Städten, geben dem visuellen Tagebuch einen globalen Charakter.

EVOL: Plattenbauten, Spray paint on dis-used electrical cabinet, Courtesy the artist and WILDE Gallery, Berlin
Evol: Plattenbauten, Spray paint
on dis-used electrical cabinet,
Courtesy the artist and WILDE
Gallery, Berlin
Immer wieder tauchen im „Evoldaily“ Bilder von Miniatur-Plattenbauten auf, wie sie noch heute vom ästhetischen Alltagspragmatismus der ehemaligen DDR Zeugnis ablegen, aber in ähnlicher Spielart durchaus auch in Vorstädten von Moskau, Tokio oder Peking anzutreffen sind. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich die Gebilde als besprayte Stromkästen im öffentlichen Raum. „Um Ärger zu vermeiden“, erklärt Evol, „spraye ich nicht direkt auf die Kästen, sondern überziehe sie erst mit durchsichtigem Papier.“ Während er diese Arbeiten autorisiert, bleiben andere Graffitis und „Tags" (gesprayte Schriftzüge) verständlicherweise anonym. Ein gewagtes Statement seitens der Entscheidungsträger des Deutschen Pavillons Evol zum Repräsentanten einer „Stadt im Gleichgewicht“ zu machen. Seine Hommage an einen Stadtraum, der nun wahrlich nicht dem bürgerlichen Verständnis von Funktionalität, Ordnung und Sauberkeit entspricht, stellt die Frage danach, wer die Gewichte auf den Waagschalen verteilt. Urbanes Gleichgewicht wird zu einem empfindlichen Balanceakt zwischen extrem unterschiedlichen Interessenten. Zudem steht das Verhältnis von Legalität und Illegalität von Street Art Aktionen im Raum.

Evol selber kann sich durchaus mit dem EXPO-Motto anfreunden: „Gerade in einer beständig unfertigen Stadt wie Berlin und natürlich auch in anderen Metropolen wird das sogenannte Gleichgewicht zu etwas, das sich immer wieder neu einspielen muss. Wenn vertraute Wege nicht mehr gangbar sind, ist der Einzelne gefordert, nach neuen für sich suchen.“ Was Evol für Berlin formuliert, trifft bekanntermaßen für asiatische Megacitys mit potenzierter Geschwindigkeit zu. Geduldete Graffitis im öffentlichen Raum chinesischer Städte oder auch nur graue Hausfassaden auf Umzugskartons im Chinesischen Pavillon sind allerdings nur schwer vorstellbar.

EXPO 2010 Shanghai: 1. Mai bis 31. Oktober 2010
Text: Ulrike Münter
Kunstkritikerin, Berlin
April 2010
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