Musicals in China
„Mamma Mia!“ in Shanghai © ImagineChina
Der folgende Artikel erschien in der Februar-Ausgabe 2012 der Zeitschrift Arts Criticism (Nanjing). Das Deutsch-Chinesische Kulturnetz veröffentlicht eine leicht gekürzte Version.
Den Westen nachahmen oder Vorreiter sein? Das ist eine weit gefasste Frage. In diesem Beitrag möchte ich dazu im Wesentlichen auf drei Punkte eingehen:
1. Warum das Nachahmen nicht der richtige Weg für die Entwicklung eines chinesischen Musicals ist.
Was ist überhaupt ein Musical, was ist sein Wesen und was seine Funktion? Ein Musical erzählt durch das Medium der Musik eine dramatische Geschichte und verwendet hierbei ein vielfältiges künstlerisches Vokabular. Parallel zu einer durchgängigen musikalischen Hauptlinie verbinden sich unterschiedliche Kunstformen auf organische Weise, so dass in einem begrenzten Zeitraum gemeinsam Gefühlswelten entwickelt werden.
Da das Musical im Vergleich zu anderen Kunstsparten über besondere Möglichkeiten verfügt, Gefühle auszudrücken, steht es auch nach Jahrhunderten der Entwicklung noch in voller Blüte. Durch seinen Wandel im Lauf der Zeit und durch den sich beschleunigenden Prozess der gegenseitigen Verschmelzung der vielfältigen Kulturen der Welt wurde das Musical zum kulturellen Symbol verschiedener geschichtlicher Perioden und seine Entwicklung beeinflusst und bestimmt die künftige pluralistische Theaterkultur. Da es in China als zeitgenössische neue Kunstform empfunden wird, findet das Musical hier ein relativ großes Publikum und relativ gute Chancen für Aufführungen vor, was es mit Sicherheit zu einem Wachstumssektor innerhalb der Kulturindustrie machen wird. Derzeit konzipieren und vermarkten sich zahlreiche Städte wie Donguan und Peking als „Musical-Metropole“. In einem Presseartikel wurde das Jahr 2011 sogar als Gründungsjahr für Chinas Musical bezeichnet. Welche Haltung sollen wir nun also zur Entwicklung des Musicals einnehmen, sollen wir das Modell des westlichen Musicals nachahmen oder einen eigenen Entwicklungsweg gehen? Und welche Arten von Musicals bilden den heutigen Mainstream und stellen hervorragende Werke mit eigener nationaler Prägung dar?
Der Entstehungs- und Entwicklungshintergrund des westlichen Musicals sowie das geistige Streben und die kulturelle Wertorientierung der Gesellschaften des Westens unterscheiden sich wesensmäßig von denjenigen Chinas. Geht man den historischen Spuren des westlichen Musicals nach, dann ist leicht zu erkennen, dass es seinen Ursprung im Volk hatte. Angefangen mit der Frühform der Beggar's Opera von 1728 bis Oklahoma, Sound of Music, West Side Story, Les Miserables, Cats, Das Phantom der Oper sowie der gerade in China höchst erfolgreichen chinesischen Version von Mamma Mia! etc. sind sie alle vor einem jeweils spezifischen westlichen kulturellen Hintergrund entstanden. Sowohl vom Inhalt als auch von der Form her hat das Musical einen Wandel von der Verwendung von vergleichsweise einfachem Gefühlsausdruck, einfachem künstlerischen Vokabular und einfacher Struktur hin zu starken dramatischen Elementen, abwechslungsreicher Handlung, einer organischen Verbindung künstlerischer Ausdrucksformen und dem raffinierten Einsatz verschiedenster technischer Mittel durchlaufen. So bildeten sich mit der Zeit verschiedene Stilrichtungen des Musicals heraus, und es wurde vom westlichen Publikum, ja vom Publikum in aller Welt ins Herz geschlossen.
In China gibt es das Musical im eigentlichen Sinn erst seit ein paar Jahrzehnten, und seine Popularisierung vollzog sich phasenweise, die Entwicklung war nicht kontinuierlich. Man kann sagen, dass in China kaum Ressourcen für die Entwicklung des Musicals vorhanden sind, so hat sich praktisch noch kein Kader von Fachkräften für die Kreation von Musik und Libretti von Musicals herausgebildet, geschweige denn ausreichend Experten für ein einheitliches Management von Produktion, Aufführung und Marketing von Musicals. Wie kann auf einer solchen Grundlage ein eigener Weg für das chinesische Musical gefunden werden? So wie es jetzt aussieht, stehen die Zeichen sehr stark auf Nachahmung und Mitläufertum. Obwohl alle die originäre Kreation von Musicals „à la China“ im Munde führen, wird man in der Realität mit einem Beispiel von erfolgreichen Broadway-Musicals nach dem anderen konfrontiert. Das Kopieren ist bei der Kreation und Produktion von Musicals zum Mainstream geworden. Abkürzungen zu nehmen, dem schnellen Erfolg nachzujagen und mit Effekthascherei das Publikum zu blenden sind die aktuelle Mode. Nur selten wird von einem echten chinesischen Ansatz ausgegangen und ein auf die chinesischen Verhältnisse zugeschnittenes Musical entwickelt.
Ich denke, wenn man weiter dem von außen kommenden Modell des westlichen Musicals hinterherläuft, dann wird es mit Sicherheit zu einem allmählichen Verlust der chinesischen kulturellen Traditionen und des kulturellen Selbstvertrauens Chinas kommen. Das Resultat würde sein, dass alle dasselbe machen, dass das Ergebnis weder Fisch noch Fleisch ist, und dass das eigentliche Wesen des Musicals verloren geht. Am Ende stünden dann eine Entfernung von der Wirklichkeit und der Verlust des Publikums. Deshalb ist es an der Zeit, sich gründlich Gedanken über die Richtung zu machen, in die sich das chinesische Musical entwickeln soll. Nachahmung ist nicht der richtige Weg für die Entwicklung des Musicals in China.
2. Zum Nährboden und Spielraum für die Entwicklung chinesischer Musicals
Den Nährboden für das Musical bilden hauptsächlich folgende Aspekte: Literarische und musikalische Ressourcen, Tanz und Akrobatik, das traditionelle Kulturgut wie Mythen, Fabeln, Sagen, Heldengeschichten sowie die Ressourcen der künstlerischen Ausbildung und multi-ethnische Elemente.
Allein die Sämtlichen Tang-Gedichte aus der Schatzkammer der klassischen Literatur umfassen über 48.900 Geschichten von breiter inhaltlicher Spannweite. Dann sind da die allen vertrauten „Zehn großen Tragödien“ und „Zehn großen Komödien“ der klassischen chinesischen Literatur und so weiter. Vom Stil her gibt es die realistische und die romantische Schule. Auf dem Gebiet von Musik und Tanz liefern die Kulturen der 56 Ethnien zahllose bewegende Geschichten und bunte Legenden, wie die Geschichten des Mosuo-Volks rund um die Sitte der „Besuchsehe“ und die von der Pferdekopf-Geige begleiteten Epen der Nomaden. Sie alle stellen dem Musical unerschöpfliche ethnisch geprägte Stoffe zur Verfügung. Auch Chinas moderne Musik besitzt eine hundertjährige Geschichte, und die Unterhaltungsmusik hat seit dem ersten, 1927 in Shanghai entstandenen Song Maomaoyu (Drizzle) schon achtzig Jahre hinter sich und zahlreiche Anhänger. All das summiert sich zu einer reichen musikalischen Schatzkammer für die Entwicklung eines chinesischen Musicals.
Und wie sieht es mit den Ressourcen auf dem Gebiet der künstlerischen Ausbildung aus? 2011 gab es in China 360 Akademien und Hochschulen, die Studenten in künstlerischen Fächern aufnehmen, derzeit sind rund 500.000 Studenten in diesen Fächern eingeschrieben. 150 von diesen Institutionen verfügen über den Fachbereich Musical bzw. über verschiedene Fachbereiche, die mit dem Fach Musical in direkter Verbindung stehen. Wenn wir dort Abendaufführungen mit gemischtem Programm besuchen, dann sind fast immer auch Musical-Stücke dabei. Allein das Stück Malanhua (The Magic Aster) des China Children‘s Art Theatre erfreut sich seit 55 Jahren unverminderter Beliebtheit und hat mehrere Generationen von Kindern geprägt. Dies zeigt, dass das chinesische Musical einen ausreichend großen Entwicklungsspielraum besitzt. Deshalb besteht kein Grund, warum wir uns nicht unseren eigenen Weg erschließen und ein eigenes chinesischen Musical schaffen sollten.
3. Über die Frage, wie man eine neue Publikumsgeneration für das Musical heranziehen und einen Markt für Aufführungen schaffen kann
Studien zeigen, dass die Entwicklung der chinesischen Theaterbranche heute bereits eine starke Regionalisierung aufweist. Regionalkulturen und örtliche Besonderheiten spielen hier eine entscheidende Rolle. Dies weist uns die Richtung, die für die Heranbildung eines Publikums für das chinesische Musical einzuschlagen ist. Zunächst müssen Musicals verschiedenster Kategorien geschaffen werden, abgestimmt auf verschiedene Regionen, unterschiedliche kulturelle Hintergründe, unterschiedliche Altersgruppen und Rezeptionsgewohnheiten, um so neue Generationen von Musical-Besuchern zu gewinnen. Dabei sollte zuerst die Rolle der Akademien und Hochschulen der Künste genutzt und Campus-Musicals gefördert werden, um so mit der Jugend beginnend ein Musical-Publikum heranzuziehen. Die jungen Leute müssen eine Plattform bekommen, wo sie sich beweisen, sich austauschen und lernen können. Die Verbreitung und qualitative Verbesserung des Musicals muss von den Akademien und Hochschulen der Künste ausgehen, um dann schrittweise landesweit die Primär- und Sekundarschulen zu erreichen. In Abstimmung mit den zuständigen Stellen des Kultusministeriums könnte das Musical in das System des Wenhua-Preises (ein spezieller Preis, der vom Kultusministerium für Leistungen im Bereich der Buehnenkunst vergeben wird, Anm.d. Übers.) aufgenommen werden, um so ein Bewertungssystem für originäre Musicals zu schaffen. Dies wären die besten Methoden, um dem Markt für Musicals zur Blüte zu verhelfen und ein Publikum heranzuziehen.
Zweitens wäre es sinnvoll, das Entstehen und die Produktion von kleinen, kulturell wertvollen Musicals zu fördern; dies würde sowohl der Entwicklung des Musicals dienen als auch dazu beitragen, einen neuen Markt für dessen Aufführung zu schaffen. Schlichte und frische, publikumsnahe Musicals für Kleinbühnen würden das Publikum ansprechen, ohne große Investitionen zu benötigen. Wegen ihrer geringen Anforderungen an den Aufführungsort würden sie sich gut für Tourneen eignen, und gleichzeitig könnten diese Werke im Sinne einer gemeinschaftlichen Nutzung der Ressourcen von Akademien und Hochschulen sowie von Ensembles übernommen werden.
Drittens muss auf die Verbindung von gesellschaftlichem und ökonomischem Nutzen geachtet werden. Zwischen dem gemeinnützigen Kulturbetrieb und dem kommerziell ausgerichteten Kulturbetrieb ist die richtige Balance zu halten, so dass die kulturellen Grundbedürfnisse der breiten Bevölkerungsschichten ebenso befriedigt werden wie der kulturelle Bedarf der Menschen nach Vielfalt, Vielschichtigkeit und Vielseitigkeit. Nur wenn man sich über die Bedeutung des Verhältnisses zwischen gesellschaftlichem und ökonomischem Nutzen klar wird, lassen sich die Risiken für eine nachhaltige Entwicklung des Musicals entschärfen, und nur dann wird es lebensfähig sein.
Text: Niu Genfu (牛根富)
Stv. Intendant des China Children’s Art Theatre, Peking
Übersetzung: Jessica Mayer
Von der Redaktion bearbeitet
Mai 2012
Stv. Intendant des China Children’s Art Theatre, Peking
Übersetzung: Jessica Mayer
Von der Redaktion bearbeitet
Mai 2012