Heimat – was ist das?

Monika Maron: Geburtsort Berlin (II)

Schwedter Steg am Prenzlauer Berg © Manuela Hoffmann
Schwedter Steg am Prenzlauer Berg © Manuela Hoffmann

Später, als ich mir ein Bild von einer schönen Stadt gemacht hatte, aus Büchern, Filmen, weil ich Prag und Budapest gesehen hatte, musste ich zugeben, dass meine Stadt alles Mögliche war, groß, interessant, von unzähligen Seen und lieblicher Landschaft umgeben und von einem berüchtigten Menschenschlag bewohnt, aber schön war sie nicht, gewiss auch nicht, ehe sie zum Krüppel bombardiert wurde. Mit dem Verschwinden der Ruinen, die in Grünflächen und Parkanlagen verwandelt oder durch Neubauten ersetzt wurden, verlor die Erinnerung an die unversehrte Stadt ihren letzten Halt, und was der Krieg nicht zerstört hatte, verkam im Frieden, jedenfalls in meinem Teil der Stadt, im Osten. Baufällige Balkone wurden abgerissen, defekte Straßenuhren waren eines Tages verschwunden und wurden nie ersetzt, der Putz an den Häusern verfärbte sich mit der Zeit grau und schwarz, oder er fiel in großen Brocken auf die Bürgersteige, jeder Winter riss Löcher in die Straßen, die im Sommer nur notdürftig repariert wurden. Man konnte glauben, irgendwann würde sich das brüchige Pflaster der Schönhauser Allee plötzlich öffnen und die Menschen, Autos, Straßenbahnen auf ihr einfach verschlucken.

Unter der S-Bahnbrücke in der Pankower Wollankstraße verlief die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin. Ein einziges Mal habe ich es gewagt, sie zu überqueren, vor den Augen der anderen Menschen, die gerade ost- und westwärts durch die Brücke liefen und mich hätten kennen können. Als Kind meiner Eltern war ich mit „Westverbot“ belegt und wurde sogar von dem Flugblatt-Einsätzen der FDJ ausgeschlossen. Ich verstecke mich in meinem hochgeschlagenen Mantelkragen, mein Herz schlägt so laut, dass ich fürchten muss, der Polizist, der unter der Brücke den Ausweis jedes dritten oder fünften oder siebenten Grenzgängers kontrolliert, könnte es hören. Was will ich auf der anderen Seite? Ich sehe mir nach, wie ich hastig in den Westen hineinlaufe, vorbei an den Ramschbuden in Richtung Badstraße, und im Menschengewühl verschwinde.

1961 wurde die Brücke ein Bestandteil der Mauer. Die letzte Querstraße vor der Grenze zur rechten Seite heißt Schulzestraße, zur linken Seite Brehmestraße. Die zum Osten gehörigen Westseiten beider Straßen waren Sperrgebiet und duften nur mit Passierscheinen betreten werden. Der Blick auf die S-Bahn-Anlage hinter den Häusern bedurfte der behördlichen Genehmigung. Mitte der achtziger Jahre, als ich für ein Jahr reisen durfte, habe ich eine Schulfreundin meiner Mutter besucht, die auf westlicher Seite gleich hinter der Brücke wohnte. Ich brauchte eineinhalb Stunden, um mit der Straßenbahn in die Friedrichstraße, von dort zum S-Bahnhof Wollankstraße zu fahren und da anzukommen, wo ich aufgebrochen war, in Pankow, genauer: zehn Meter hinter Pankow. Ich stehe oben auf dem Bahnsteig und sehe in die Schulzestraße, in der meine Freundin K. wohnt, auf der östlichen Seiten. Ich hoffe, dass sie in diesem Augenblick aus dem Haus kommt und ich ihr winken kann, aber sie kommt nicht. Ich drehe mich um und sehe in den Westen, wo die Wollankstraße einfach weitergeht, was ich fast vergessen habe.

Schönhauser Allee in Berlin, 1978, Bild 183-T1220-012, Foto: Reinhard Kaufhold (Ausschnitt), © Bundesarchiv
Schönhauser Allee in Berlin, 1978,
Bild 183-T1220-012, Foto: Reinhard
Kaufhold, © Bundesarchiv
Ein paar Jahre später, im November, kann ich mich zum dritten Mal an der Brücke treffen. Inmitten einer Gruppe von vierzig oder fünfzig Leuten stehe ich mit einem blödsinnig seligen Ausdruck im Gesicht und sehe den Arbeitern zu, wie sie mit Pressluftbohrern und anderem Gerät die Mauer demontieren. „Das wird heute nichts mehr“, schreit einer der Arbeiter uns zu. Wir bleiben alle stehen, wir wollen nicht durch die Brücken gehen, wir könnten ja über die Bornholmer Straße oder andere Übergänge, die schon geöffnet sind; wir wollen sehen, wie das Ende der Welt Meter für Meter abgetragen wird. Die meisten Zuschauer sind so alt wie ich und haben schon zugesehen, wie die Straße und alle Ziele, zu denen sie führte, hinter dem Beton verschwanden. Der Mann neben mir mit dem Kind auf den Schultern lächelt mich an, ich lächle zurück. Jeder, der auf den Blick eines anderen trifft, lächelt ihm zu. Einige der Umstehenden kenne ich, andere kommen mir bekannt vor. Es ist gleichgültig, wer wir sind und was wir bisher getan haben in unserem Leben, in diesem Augenblick verbindet uns alle bodenloses Glück. Für jeden, der das nicht erlebt hat, ist die S-Bahnbrücke in der Wollankstraße, unter der die Stadtbezirke Wedding und Pankow aneinander grenzen, ein schäbiger, hässlicher Ort, den man nur betritt, um ihn mit dem nächsten Schritt schnell zu verlassen.

Unsere mythischen Erinnerungen wurzeln in Anfängen, darum so oft in der Kindheit und Jugend, wenn alles Anfang ist und nichts Alltag, wenn jeder Tag noch ein erstes Mal beschert den ersten Kaugummi, da erste Buch, die ersten Stöckelschuhe, das erste Konzert, die erste Zigarette. Seit zehn Jahren wohne ich in Schöneberg, aber meine eindrücklichsten Bilder vom Westteil Berlins stammen aus der Zeit, in der die Mauer noch stand. Ich überquere den Tauentzien am Wittenbergplatz, auf dem Mittelstreifen bleibe ich stehen und sehe nach rechts, eigentlich nur, um eine Lücke zwischen den vorbeifahrenden Autos zu finden. Es ist ein später Nachmittag oder früher Abend im Herbst, die Schaufenster sind schon beleuchtet, am anderen Ende der Straße behauptet die Gedächtniskirche ihre symbolische Wichtigkeit. Wie ein schwarzer Wächter dominiert sie das Bild, und ich denke, dass die Straße, das Licht, die Kirche nicht für mich da sind, dass ich nicht reingehöre in dieses Bild, weil mein Visum am ersten Oktober abläuft. Gefahren bin ich dann doch erst am zweiten Oktober, den wir, das heißt alle, die an diesem Abend um den Küchentisch meiner Freundin E. saßen und unsere Weh-mut im Wein badeten, den DZO tauften, den Denkwürdigen Zweiten Oktober. Auf dem U-Bahnhof Spichernstraße, wo außer uns niemand auf den letzten Zug Richtung Zoo wartete, sang ich den anderen noch ihr Lieblingslied von mir vor: obwohl ich viel zu heiser war vom Rauchen und Trinken und lautem Reden in den Kneipen, sang ich durch den hallenden Bahnhof das Lied von dem schweigsamen Jüngling, auf Russisch: Na saktje chodit pa-ha-rhen

Und an einer früheren Nacht erinnere ich mich genau, als ich während einer Autofahrt durch Kreuzberg plötzlich eine Straßenkreuzung sah, die einer Kreuzung im Prenzlauer Berg zwillingshaft glich, und dass ich kurz darauf die Warschauer Straße zu erkennen glaubte und überhaupt zum ersten Mal wirklich begriff, dass die beiden Teile der Stadt ein Ganzes waren, dass ihre Glieder zum selben Körper gehörten. Nachts, wenn die Dunkelheit die Farben schluckte und nur die grauschwarzen Konturen der Straßenzüge und Silhouetten der Häuser sich aus dem Dunkel abhoben, offenbarte die Stadt, was mir am Tag unter den heilen Fassaden, den grellen Reklametafeln und hinter den prunkvollen Schaufensterauslagen verborgen geblieben war.

Inzwischen sind die gekappten Verbindungen zwischen den beiden Teilen längst wieder verbunden und die Mitte der Stadt gehört wieder allen. Aber immer noch, wenn ich über eine der Linien fahre, auf denen einmal die Mauer stand, überkommt mich ein seltsam heiligmäßiges Gefühl.

Obwohl meine Wohnung und mein bevorzugtes Restaurant im Westen liegen und die meisten meiner Freunde, auch die früher im Osten wohnten, dort leben, wird der Ostteil Berlins mir wohl immer vertrauter bleiben. Warum ich diese Vertrautheit eher fliege als suche, werde ich vielleicht in zehn Jahren wissen. Alle Antworten, die mir jetzt einfallen, glaube ich nicht.

Städte, in denen ich für ein paar Tage oder Wochen war, haben Bilder in meinem Gedächtnis hinterlassen, eingeprägte Augenblicke, die wir Fotografien gespeichert sind. Berlin hingegen ist ein Raum, ein großer halbdunkler Raum, durch den Gerüche und Geräusche ziehen; mal hier, mal da, plötzlich beleuchtet, erscheinen Szenen und zerfließen wieder, Stimmen klingen auf, deutlich und unwirklich wie in einem Traum, werden von ungebetenen Geräuschen übertönt, bis sie verstummen. Das Gesetz, nach dem ich mich erinnere, kann ich nicht erkennen. Scheinbar zufällig und unerwartet werden die Mauern, nur für mich hörbar, ein mattes Echo meines Lebens zurück.

Im Oktober 2011 besuchte Monika Maron auf Einladung der Peking-Universität und des Goethe-Instituts erstmals China.

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Text: Monika Maron
Schriftstellerin, Berlin
November 2011
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