Nachhaltigkeit

„Viel Geld zu haben und nachhaltig zu leben, ist ein Unding“

Ein Passivhaus und eine Bionade senden das Signal aus: Hurra, ich bin ein Weltretter! © istockphoto.com
„Ein Passivhaus und eine Bionade senden das Signal aus: Hurra, ich bin ein Weltretter!“ © istockphoto.com
„Ein Passivhaus und eine Bionade senden das Signal aus: Hurra, ich bin ein Weltretter!“ © istockphoto.com


Der Beitrag erschien in der Süddeutschen Zeitung vom 6. September 2012.

Niko Paech, 51, hat kein Auto, kein Handy und keinen Fernseher. Er fliegt auch nicht. Der 51-jährige Volkswirt lebt das Leben, das er anderen predigt. Die ökologische Wende hat ihm zufolge noch nicht einmal angefangen. Die Energiewende hält er für einen Amoklauf gegen die Natur. „Heute schaffen es Menschen locker, bis zum 20. Lebensjahr mehr CO2 zu verursachen, als mein Großvater während seines gesamten Lebens.“

SZ: Herr Paech, Politiker, Ökonomen und Unternehmer werden unruhig, wenn das Bruttoinlandsprodukt mal nicht wächst. Ist das BIP überhaupt noch das richtige Maß?

Niko Paech: Nein, das BIP ist erstens überhaupt keine geeignete Zielgröße für die Gestaltung moderner Gesellschaften, und zweitens ist dessen weiteres Wachstum nur zum Preis verheerender ökologischer Zerstörung zu haben. Das gilt aber nur für hoch entwickelte Industrie- und Konsumgesellschaften. Es wäre hingegen zynisch zu verlangen, dass eine Armutsökonomie wie etwa Malawi auf Wachstum verzichten soll.

Warum soll denn Europa auf Wachstum verzichten?

Bis heute ist es nicht gelungen, die arbeitsteilige Industrieproduktion, welche in das BIP einfließt, von Umweltschäden zu entkoppeln. Auch Dienstleistungen oder vermeintliche Nachhaltigkeitsinnovationen sind nicht zum ökologischen Nulltarif zu haben. Für ein weiteres Wachstum gehen uns außerdem auf absehbare Zeit die Ressourcen aus. Und wen macht weiteres Wachstum in reizüberfluteten Konsumgesellschaften überhaupt noch glücklich? Auch die Behauptung, dass Wachstum für mehr soziale Gerechtigkeit sorgt, ist mehr als zweifelhaft.

Ist Wachstum ohne ökologische Schäden möglich?

Ganz sicher nicht. Seit 40 Jahren versuchen wir, Umweltschutz durch technischen Fortschritt zu praktizieren – und haben stets das Gegenteil bewirkt. Wo man glaubt, eine Art „Green Growth“, also grünes Wachstum, hinzubekommen, werden die bisherigen Schäden gegen neue getauscht, verlagert oder einfach weginterpretiert.

Wo denn zum Beispiel?

Die Energiewende und die damit verbundene Förderpolitik hat eine unkontrollierbare Dynamik entfacht. Das ist ein Amoklauf gegen den Rest der Natur. Die industrielle Verdichtung ganzer Landstriche durch Windkraft, Fotovoltaikanlagen auf Freiflächen, Überlandleitungen, Pumpspeicherkraftwerke oder Energiepflanzen nebst Biogasanlagen wird als sichtbares Zeichen für ökologischen Fortschritt gefeiert.

So sehen das viele Bauern und Politiker, auch Grüne.

Das kann ich verstehen. Politiker haben Angst davor, von den Wählern abgestraft zu werden, wenn sie ihnen Sparsamkeit zumuten, statt technischen Wandel zu verheißen, der das Gewissen beruhigt und niemandem etwas abverlangt. Und die Bauern freuen sich, weil sie neben den skandalösen EU-Subventionen zusätzlich noch die Förderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes abgreifen können. Die Energiewende ist aus vier Gründen fehlgeleitet.

Die da wären?

Da sie unter dem Vorbehalt eines Erhalts unseres Wohlstandsmodells steht, beruht sie allein auf einem Ausbau von Anlagen zur Nutzung der Erneuerbaren. Aber dadurch wird der ökologische Schaden von einem bestimmten physischen Aggregatzustand, nämlich aus der Luft, in einen anderen physischen Aggregatzustand verlagert, nämlich in die Landschaft und das Meer. In Oldenburg will man ein Landschaftsschutzgebiet auflösen, um 150 Meter hohe Windkraftanlagen zu bauen. Alle Biologen warnen davor – aber Investoren und Politiker peitschen das durch.

Und zweitens?

Einsparung und Effizienz spielen praktisch keine Rolle. Drittens: Der Fokus liegt allein auf Elektrizität. Völlig übersehen wird, dass Wärmeerzeugung und Mobilität entscheidende Probleme darstellen, aber an die traut sich niemand heran. Viertens: Hinter den Kulissen werden monströse neue Kohlekraftwerke gebaut.

Niko Paech, Foto: privat
Niko Paech, Foto: privat
Woher soll die umweltfreundliche Energie kommen, wenn Windkraft- und Solaranlagen nur Teufelswerk sind?

Sie drehen mir das Wort im Mund um. Es gibt keine Alternative zu regenerativen Energieträgern. Aber der erste Schritt muss sein, radikal Energie zu sparen. Die beste Energie ist die, die wir nicht verbrauchen.

Wenn nicht ins Meer und auf die Felder, wo sollen die Anlagen hin?

Auf Flächen, die ohnehin schon okkupiert sind. In einer Postwachstumsökonomie, die ich als Zukunftsentwurf vorschlage, wäre die Industrie viel kleiner als heute. Stillgelegte Industrien gäben Flächen und Brachen frei, von denen die, welche nicht zu renaturieren sind, für Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energie verfügbar wären. Wenn wir überdies 75 Prozent der deutschen Flughäfen stilllegen, haben wir weitere Flächen. Flugreisen sind ohnehin ökologische Schadensmaximierung. Zudem müssen wir die Hälfte der deutschen Autobahnen stilllegen oder einspurig gestalten, damit dort Windkraftanlagen Platz haben.

Finden Sie mit solchen Theorien Gehör?

Nein. Es gibt von offizieller Seite eine krasse Abneigung gegen meine Vorschläge, aber in der Öffentlichkeit eine zunehmende Neigung, auch mal die unbequemen Wahrheiten zu hören. Immer mehr Menschen ahnen, dass wir in der nächsten Dekade an Grenzen stoßen, die uns keine andere Wahl lassen, als über eine Reduktion des materiellen Wohlstandes nachzudenken. Es geht doch längst nicht mehr nur um Ökologie.

Sondern?

Um das Fördermaximum für Öl und andere Rohstoffe, die Finanzkrisen und eine vor lauter konsumtiver Überladung gestresste Gesellschaft.

Wenn unser Maß, das BIP, ökologisch so desaströs ist, warum sollen denn Staaten wie Malawi sich nicht gleich an anderen Maßstäben messen?

Unterversorgte Länder brauchen weiteres materielles Wachstum, aber nur bis zum Erreichen einer bestimmten ökologischen Grenze. Das Problem ist nicht der falsche Indikator, sondern das Festhalten an der Idee permanenter Steigerung. Der Versuch, das von Menschen empfundene Wohlergehen oder Glück einerseits grenzenlos zu steigern und dies andererseits allein auf Basis vollständig immaterieller, also ökologisch neutraler Mittel zu erreichen, ist absurd.

Den Industriestaaten predigen Sie Entwöhnung. Also weniger von allem: weniger Energie, weniger Rohstoffe …

… natürlich. Wenn Sie einen Vertreter der Windenergiebranche in Rage versetzen wollen, fragen Sie ihn, wie viel Seltene Erden man braucht, um Permanent-Magneten für Windgeneratoren herzustellen.

Wie viel braucht man?

Es reichen geringe Mengen an Dysprosium oder Neodym, aber die stammen zusehends aus Krisengebieten. Um Coltan für Handys werden Bürgerkriege geführt, wie jetzt schon im Kongo. Auch Hybridautos, Elektromobile und andere vermeintliche Nachhaltigkeitsinnovationen haben diese Achillesferse.

Sie sehen offenbar überall nur ökologische Defizite.

Die ökologische Wende hat noch nicht einmal angefangen. In Deutschland findet sich kein einziges relevantes Handlungsfeld, in dem sich – wohlgemerkt unter Berücksichtigung aller Verlagerungseffekte – etwas anderes als eine Zuspitzung der Umweltkrise abzeichnet. Auch die heranwachsenden Generationen lassen keine optimistische Erwartung zu.

Elektroschrott: Spätestens nach fünf Jahren kauft sich jeder von uns einen neuen Rechner, © istockphoto.com
Elektroschrott: Spätestens nach fünf Jahren kauft sich jeder von uns einen neuen Rechner, © istockphoto.com

Was machen die verkehrt?

Niemals zuvor in der Geschichte haben junge Menschen so viel Einwegmüll und Elektroschrott verursacht, Elektrizität infolge der digitalen Kommunikation verbraucht, Textilien verschlissen, Konsumgüter angehäuft und vor allem Flugreisen genutzt. Heute schaffen es Menschen locker, bis zum 20. Lebensjahr mehr CO2 zu verursachen, als mein Großvater während seines gesamten Lebens. Eltern und Lehrer überschlagen sich förmlich, Kindern und Jugendlichen hinter der Fassade von Weltoffenheit einen komfortablen und globalen Lebensstil anzutrainieren. Die stets bekundete Alibi-Hoffnung, dass die jeweils nächsten Generationen zum Träger einer Nachhaltigkeitswende würden, ist vollends pervertiert.

Weshalb fällt unsere Ökobilanz so schlecht aus?

Die Quelle dafür, dass wir uns den enormen materiellen Wohlstand aneignen können, liegt in der globalen industriellen Arbeitsteilung. Auf diese Weise lassen sich die betriebswirtschaftlichen Kosten moderner Produkte und Dienstleistungen zusehends reduzieren. Gleichzeitig werden dadurch die schmutzigen, nämlich flächen-, ressourcen- und energieintensiven Teile der Herstellungsketten nach Fernost oder Lateinamerika verlagert. Die ökologischen Schäden, welche fünf Millionen Notebooks aus Asien entlang der Herstellungskette anrichten, lassen wir dann außen vor, wenn die umweltökonomische Gesamtrechnung eines europäischen Staates besungen wird.

Was erwarten Sie von den deutschen Unternehmen? Sollen sie ihre Werke in China und Brasilien einfach schließen?

Zunächst geht es um die Quantität des Durchflusses. Wir sollten Konsumobjekte so gestalten, dass sie langlebiger sind und sich reparieren lassen, am besten durch die Nutzer selbst. Die Industrie muss nicht gänzlich verschwinden, aber viel kleiner werden. Dies ginge damit einher, dass aus Konsumenten fleißige und sparsame Prosumenten werden.

… also Menschen, die nicht nur konsumieren, sondern auch produzieren.

Sie bräuchten weniger Dinge, die sie gemeinsam nutzen und selbst reparieren. Es braucht nicht jeder eine Bohrmaschine oder ein Auto. Die neue, deglobalisierte Arbeitsteilung sähe so aus: Sie reparieren mein Notebook und dafür halte ich Ihre Textilien instand. Sie kriegen etwas von meinem Ernteanteil aus dem Gemeinschaftsgarten, aber dafür darf ich mir Ihren Rasenmäher ausleihen und so weiter.

Und das bringt dann die Ökowende?

Ja. Weil die zukünftige Industrie viel weniger produzieren würde, denn wenn sich zwei Leute einen Gegenstand teilen oder jemand durch pflegliche Behandlung und eigenständige Reparatur ein Produkt zu doppelter Lebensdauer verhilft, reicht die Hälfte des Outputs! Über die Abschaffung der geplanten Obsoleszenz und ein Prosumentenmanagement würden die Unternehmen uns beibringen, wie deren Produkte zu reparieren sind, damit wir weniger kaufen müssen.

Die Folge wird sein, dass Unternehmen Jobs streichen.

Richtig. Aber wenn wir weniger kaufen müssen, reicht weniger Geld und folglich weniger Arbeitszeit, etwa 20 Stunden.

Diesen Menschen müssen Sie beibringen, weniger Geld zu haben.

Viel Geld zu haben und gleichzeitig nachhaltig zu leben, ist ein Unding. Genau um diese zugegebenermaßen unbequeme Wahrheit drücken wir uns.

Wären Sie bereit zu verzichten? © istockphoto.com
Wären Sie bereit zu verzichten? © istockphoto.com

Was ist denn so überflüssig?

Flugreisen, Autofahrten, Wellness, zu viele Restaurantbesuche, Eier, zu viel Fleisch, zu viel Fisch, weitere Einfamilienhäuser … Es gibt so viele Energiesklaven, also bequeme elektrische Geräte und andere Gebrauchsgegenstände, deren Bestand wir nach und nach reduzieren können. Vor allem: Reparieren statt neu produzieren und gemeinschaftlich nutzen!

Klingt nach Öko-Diktatur!

Unsinn. Ich will nicht zurück ins Mittelalter. Jeder Mensch sollte die Freiheit haben, selbst zu entscheiden, wie er oder sie innerhalb eines individuellen ökologischen Rahmens das Beste für sich rausholt. Der Rahmen heißt: 2,7 Tonnen CO2 pro Jahr.

Warum sollte die Industrie die Produktion einschränken, solange die Nachfrage da ist? Die wenigsten Menschen wollen auf irgendetwas verzichten!

Ich meine keinen Verzicht, sondern Befreiung vom Überfluss. Wir haben es uns bequem gemacht. Wir wollen nicht mehr Sorge für die produktiven Leistungen tragen, die wir tagtäglich beanspruchen, sondern delegieren sie an eine zerstörerische Megamaschine, um uns nicht die Pfoten schmutzig zu machen. Wir sind lieber global vernetzte Wissensarbeiter mit akademischem Abschluss und Touchscreen im klimatisierten Büro oder Konferenzsaal. Und zur Gewissensberuhigung trinken wir Bionade und spenden bei Atmosfair.

Eine Art individuelles Green Washing?

Ja. Die symbolische Aufladung unserer Alltagspraktiken und Konsumobjekte dient der Selbstdarstellung. Auf diese Weise können wir ausdrücken, wer wir sind oder sein möchten. Ein Passivhaus und eine Bionade senden das Signal aus: Hurra, ich bin ein Weltretter! Damit lässt sich großzügig über die Flugreise nach Brasilien hinwegsehen. Je mehr identitätsstiftende Nachhaltigkeitssymbole es gibt, desto mehr ökologische Schäden lassen sich damit moralisch kompensieren. Nichts anderes als das ist die nachhaltige Entwicklung, die in zeitgenössischen Konsumgesellschaften inszeniert wird. Wir sollten wieder sesshaft werden, statt permanent unterwegs zu sein und CO2 zu emittieren.

Wo geht Ihr nächster Flug hin? © istockphoto.com
Wo geht Ihr nächster Flug hin? © istockphoto.com

Fliegen Sie?

Ich bin 51 Jahre alt und bin ein einziges Mal geflogen. Das war 1993 zu meinem Doktorvater in Washington. Er hat mich vor die Wahl gestellt: Entweder er fliegt zu mir oder ich komme zu ihm.

Warum haben Sie nicht das Schiff genommen?

Ich habe versucht, eine Schiffsreise zu buchen. Die hätte damals 4000 Mark gekostet und mehr als zwei Wochen hin und zurück gedauert. Da biss ich in den sauren Apfel. Ansonsten lehne ich alle Einladungen ab, die mit einer Flugreise verbunden sind. Dass ich damit als Wissenschaftler diskreditiert bin, ist natürlich der Preis, weil in meiner Vita der 15-minütige Vortrag auf einer Nachhaltigkeitskonferenz in Thailand oder Los Angeles nicht vorkommt.

Haben Sie denn wenigstens ein Haus mit Garten für die Selbstversorgung?

Ich habe kein Haus. Eines zu bauen, wäre das Letzte, was ich täte. Für mich sind Mietshäuser und gemeinschaftliche Wohnformen akzeptabel. Ein Handy, Fernseher oder Auto habe ich auch nicht. Ich habe 1979 den Führerschein gemacht und fuhr als 19-Jähriger ein halbes Jahr lang einen uralten Pkw, bis zu einem Unfall. Seither lebe ich ohne Auto. Ich habe eine Bahncard 50 und zwei alte Mountainbikes.

Eins würde auch reichen.

Jetzt sind Sie aber streng. Das eine habe ich bereits 1995 gekauft und repariere daran praktisch alles, sodass es nie ersetzt werden muss. Und ich bin halt ein Fahrradschrauber, auch für meine Freunde.

Was bekommen Sie dafür?

Von meiner Freundin, die Teilzeitköchin in einer Schulküche ist und deren Fahrrad ständig repariert werden muss – es ist zum Verzweifeln – kriege ich dafür zum Beispiel vegetarische Leckereien, die vom Mittagstisch übrig geblieben sind.

Niko Paech lehrt an der Carl-von-Ossietzky-Universität in Oldenburg. Er berät das Netzwerk Attac und ist Vorsitzender der Vereinigung für Ökologische Ökonomie, deren Jahrestagung vom 20. bis 22. September in Freiburg stattfand.
Interview und Text: Elisabeth Dostert
Journalistin, München
November 2012

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