»Im Gleichschritt schlendern – unterwegs in Hamburgshanghai und Berlinhongkongbeijing«
Konzept des Ausstellungsbeitrags
Ein Band aus Text zieht sich durch den Raum, zieht seine Bahn unscheinbar vorbei an den Exponaten. Das Band besteht aus Geschichten, die zeitgleich an unterschiedlichen Orten stattfinden: Hamburg und Shanghai – Hamburgshanghai. Dem Ich-Erzähler passieren darin immer wieder ähnliche Dinge, nur dass diese durch Raum- und Zeitverschiebung strikt voneinander getrennt bleiben. Dadurch soll ein fiktiver deutsch-chinesischer urbaner Kontext geschaffen werden.
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Das Band besteht aus Handschrift, ausgeführt in schwarzer Farbe und direkt an Fußboden und Wände geheftet.
沪
20:45 Fähre Pudian Lu 浦电路渡船
Man kommt sich vor wie ein Frosch so knapp über dem Brackwasser, ja, herabgestiegen an dunkle Ufer eines völlig anderen Ortes, an dem andere Menschen Plastikmünzen in einen Behälter werfen. Die Zweiräder nehmen Aufstellung, das Fährboot dockt an. Ein Gitter bleibt zu, bis alle an Land gegangen sind – dann stürmen wir das Deck, es ruckelt. Im Scheinwerferlicht verändert sich die dunkle Masse der No-Names zu einem gußeisernen Arbeiterdenkmal, dazu von rechts die unfaßbare, fluoreszierende Neonwelt eines neu erstrahlten Shanghais. So nahe am schwarzen Süßwasser sehen wir fern, im Dunkeln – was mich staunen, fast schon feierlich werden läßt, ist für die Fährgenossen bereits langweiliges Abendprogramm. Das Boot macht einen Schwenk in die Nacht, es ruckelt mich wach. Unsere Gemeinschaft nimmt Aufstellung, und dieses Mal sind wir die ersten, die durch das Gitter dürfen. Der Fernseher ist plötzlich ausgeschaltet, jetzt stehe ich fast blind in der Nacht des Ortes, der früher einmal Shanghai war—— will sagen: ursprünglich, vor 160 Jahren.
HH
14:45 Jungfernstieg
Die Stadt baut neue, große Treppen ans Wasser, damit man besser die Enten füttern kann. Mein erster Blick auf Hamburg vor Jahren war: Eine dunkelgraue Suppe aus Nebel, Schnee und Eisschollen, dazwischen ein strahlender Wasserweihnachtsbaum vor der urbanen Lichterkette. Mein Freund C. erklärte: In Hamburg gibt es die »Alster-Typen« und die »Hafen-Typen«. Aber für mich ist das tiefe Ineinander aus süß und sauer, klein und groß, putzig und schmutzig, Nadelstreifen und Ölflecken meisterlich verwoben, zieht sich durch Kanäle, Straßen und Rohrleitungen.
沪
21:30 Am Alten Westtor 老西门
Selbst wenn nicht ausgerechnet heute im ganzen Bezirk der Strom ausgefallen wäre, gäbe es hier wenig Kunstlicht. Eine Kette aus Flämmchen und Taschenlampen, so liegt die Gasse qualmend und dampfend vor mir da – irgendwo, nur nicht in Shanghai. Ich stehe in Shanghais Zentrum, ausgehend von der Erwartung, daß die Altstadt gewöhnlich auch das Zentrum sein müßte. Die kolonialpolitische Entwicklung aber hat den historischen Stadtkern marginalisiert, zum unbedeutenden Satelliten gemacht. Der neue Schwerpunkt flimmert längst weiter nördlich, wo die Engländer einst, angewidert von dem chaotischen Gasselwerk, ihr Quartier aufschlugen. Im friedlichen Beieinander der abendlichen Straßenhocker schmecken die Fleischspieße nach Rauch.
HH
15:30 Schanzenstraße
Hier gibt es noch Gemüseläden – oft habe ich das Gefühl, um hier in der Stadt eine normale Infrastruktur zu finden, müsse man das Zentrum verlassen, in dem es mittlerweile leichter zu sein scheint, ein zeitgenössisches Ölgemälde zu erwerben als ein Pfund Orangen. Und doch werden hier edle, schwarz lackierte Flügel gebaut, die aber freilich woanders verkauft werden, denn hier ist es viel zu staubig für solche Schmuckstücke. Ein Freund aus Potsdam kam während seines Praktikums in einer Hamburger Prestige-Werbeagentur nach Feierabend oft in diese Gegend, um »einfach ein bißchen Müll auf der Straße herumliegen zu sehen« und am Kiosk eine Currywurst zu essen, so wie ich jetzt gerade auch.
沪
22:30 Bund, Ecke Yan´an Lu 外滩延安路
Am Wurmfortsatz der Ost-West-Hochstraße steht eine Art Schiffsmast-Denkmal. Wann immer ich im Taxi auf diesen Punkt zugesteuert wurde, befiel mich die Angst, die Fahrbahn würde einfach aufhören und alle Autos in den Fluß katapultieren. Im letzten Augenblick dreht die Piste dann doch scharf nach links ab, und das Bild der Schrecksekunde verblaßt noch auf der leuchtenden Schneise zum Bund, wo ich jetzt im Fahrtwind stehe und den flinken Scheinwerfern bei ihrer immer gleichen Pirouette zusehe. Warum die Uferpromenade Bund heißt, ist mir genau so unklar wie die Frage, ob ihr chinesischer Name Waitan eigentlich äußerer Strand oder gar Ausländerstrand bedeutet, ob hier ein Ersatz-Shanghai beginnt oder das wahre Shanghai. Eine irgendwie hochformatige Skyline, die über den Fluß hinweg alles andere niederstrahlt, läßt die Ameisenstraße keineswegs genau gleicher Frachtkähne im schwarzen Wasser nur als dunkelgraue Schatten erahnen. Die Kolonialbauten wirken schimmlig. Zwei junge Europäer lassen sich von einem findigen Kunsthandwerker in Knetmasse portraitieren, und ich lehne höflich eine spontane Verabredung mit einer jungen Dame ab. Das Peace-Hotel nickt mir giftgrün zu.
HH
16:30 Landungsbrücken
Daß es die südamerikanischen Panflötenspieler immer noch gibt – dieser könnte mit seiner professionellen Anlage bestimmt auch in einer Sporthalle auftreten. Hier allerdings bleibt ihm die Galionsfigur der »Rickmer Rickmers« als steifes, aber geduldiges Publikum. Ob am anderen Ende der Welt seine rührseligen Melodien Anklang finden würden oder nicht, bleibt hinter den strahlend weißen Eisenwänden der schwimmenden Plattenbauten verborgen, die ungerührt und gewaltig vorbeiziehen, vielleicht mit meiner Frage im Gepäck auf direktem Weg nach Peru. Vielleicht findet sich eine Antwort gut verstaut hinter den Backsteinmauern der Speicherstadt, möglicherweise geht sie in den Digitalkameras einer größeren Reisegruppe zur weiteren Prüfung nach Peking. Hier, zwischen Fährpier, Fischbude und den lockeren Reihen der Müßiggänger hört ein ganz bestimmter Teil der Welt auf und beginnt etwas, das sich zwischen den Kränen des Containerterminals verliert. Am Tor zu Europa grüßt die noch nicht einmal fertige HafenCity herüber, als hätte sie meine Frage längst aufgeschnappt und mich bereits per Werbe-Flugblatt zu einem Symposium eingeladen, an dem der Panflötist und einige seiner Gefährten das Wort führen werden.
沪
06:30 Jing´An-Tempel 静安寺
Ich bin kein Frühaufsteher, aber wenn ich es schaffe, nehme ich immer die U-Bahn knapp vor 7 Uhr, weil ich diese Zeit als eine Art Schwellenwert entdeckt habe, zumindest den Sommer über: Vor Sieben schenkt die Luft noch etwas Kühlung, selbst auf den ständig kaputten Rolltreppen an der Yan´An Lu komme ich nicht ins Schwitzen, wenn ich in meinen frisch besorgten Gemüse-Baozi beiße. Vor Sieben kann ich noch einen Augenblick auf dem Fußgängerüberweg halt machen und den alten Leuten im Park bei ihren eleganten Übungen zusehen, den brüchig aus Lautsprechern dröhnenden Gesang der Baustellenmönche in den Ohren. Vor Sieben ist die U-Bahn noch so leer, daß ich meistens sogar einen Sitzplatz bekomme. Sollte ich es jedoch nicht schaffen, rechtzeitig aus dem Haus zu kommen, empfängt mich ein verlorener Tag: Ich trotte bereits schweißgebadet die immer noch nicht reparierten Rolltreppen hinauf, fühle mich von den alten Leuten im Park hämisch beobachtet, geschweige denn daß mir das brühheiße Frühstück in den Kram paßt. Erst im Kälteschock des U-Bahnhofs beginne ich mich besser zu fühlen, was dann aber sofort ins Gegenteil umschlägt, sehe ich den zum Bersten gefüllten Blechwagen auch nur anrollen.
HH
00:30 Altona
Das Bier schmeckt um so besser, wenn man sich so lange dafür anstellen mußte. N. hat ihre Digitalkamera ausgepackt und beginnt einen spontanen Diavortrag, eine kleine Bilderreise zwischen ihrer Wohnung in Altona, dem Elternhaus in der Pfalz und irgendwelchen Schwarzwälder Bergkuppen. Besonders viel Festplattenspeicher belegen Schnappschüsse vom Flughafen Fuhlsbüttel, zwischen Köpfen und Mützen erkenne ich das nagelneue Flugmonster, das seiner Serienproduktion wieder ein Stückchen näher gerückt ist: N. hat in ihrem Ingenieurbüro sämtliche Stromkabel für den A-380 »verlegt«, die Lebensadern des Sauriers, was enormen logistischen Aufwand und etliche Monate Arbeit bedeutet. Wen wundert es da, daß sie das Flugzeug in- und auswendig kennt wie ihr eigenes Kind und gerade den Stellen besondere Relevanz einräumt, die für den Passagier hinter roten Teppichen und dem Lächeln der Stewardessen verborgen bleiben werden: Zwischendecken, doppelte Böden, Kabelwälder, Adapter, Sicherungsblöcke. Als spräche sie über Jungen, die mit ihren Modellfliegern spielen, erzählt sie von den Testflügen kreuz und quer durch die Welt. Wo denn das erste Exemplar zum Einsatz kommen wird, will ich wissen: »Das geht wahrscheinlich nach Shanghai«, kommt zurück.
沪
08:00 Pudong SSB 浦东某座写字楼
Gerne komme ich hierher aufs Dach, auch wenn es mir gelegentlich schwindlig wird. Vor einer Weile war es sogar noch gestattet, auf ein noch höheres Niveau zu klettern, wo man, nur ein grobmaschiges Eisengitter unter den Füßen, quasi frei schwebend in der Abluft der riesigen, unzählige Stockwerke versorgenden Klimaanlage über der unerklärlich vor sich hin lebenden Stadt innehielt und versuchte, den Instinkt der stillen Spielzeugautos zu verstehen, wie sie sich in völlig ausweglosen Clustern doch irgendwie durchlavieren. Mich freut es, im Stadtdschungel organisierte Formen zu entdecken, plötzlich auftauchende Muster, läßt man die Augen für eine Weile ziellos müßiggehen. Als hätte ich per Mausklick eine Textkodierung geändert, liegt ein bisher verborgener Sinn der Stein- und Glaswüste vor mir da – ein Wohnviertel ist komplett cyanblau gedeckt, rechts daneben folgt ein rosarotes, daheim würde man sagen: »Telekom-Rot«. Ein hellgrüner Block gerät gleich dahinter in meinen Fokus, und wie von selbst zieht sich eine schnurgerade Linie zwischen sieben grauen Wohntürmen quer durch diese Farbenvielfalt. Schaue ich direkt nach unten, wird mir der Sinn der Straße klar, der sich mir nie direkt erschlossen hat; bisher empfand ich sie als maßlos verschwenderisch angelegt, ein Teerfeld, das die Wärme jedes Sonnenstrahls zu verdoppeln schien, wie jemand, der sich bei heißen Temperaturen völlig in schwarz gekleidet hat. Von oben erkenne ich, wie gut es die Stadtplaner eigentlich gemeint haben: Ein großzügiger Fußgängerbereich lädt zum morgendlichen Taiji ein, in kleinen, ummauerten Parks kann man der Verkehrshektik entfliehen, die Straße selbst ist so breit, daß es niemals einen Stau geben könnte. Im Bauplan muß all dies wahrscheinlich perfekt ausgesehen haben.
HH
2:00 Esmarchstraße
Ich falle ins Bett. Vorgestern habe ich unterwegs halt gemacht und mir das neue Stadtmodell angesehen, eine Platte, üppig bestückt mit weißen Bauklötzen, lackiert wie eine alte Zimmertür, ausgenommen einiger naturbelassener Blöcke, die für alles Neue und Zukünftige stehen. Vor allem in der dem Eingang zugewandten Ecke ist viel Pappelholz zu sehen: die große HafenCity mit ihrer Elbphilharmonie. Ich hielt nach dem Michel Ausschau – in schneeweißer Camouflage schien er sich zwischen markanteren Klötzen zu verstecken, Gebäuden, die mir im echten Hamburg noch nie aufgefallen waren. Vielleicht weil mich das beunruhigte, fand ich mich wenige Minuten später um Atem ringend auf den Treppenstufen von St. Michaelis wieder, vorbei an Chronometer und Hanseglocken voller Taubenmist immer weiter hinauf ins Licht einer Postkartendämmerung. Die Klötze erkannte ich nicht wieder, sie waren mit einem Mal im Stadtpanorama versunken und mit ihnen die Unsicherheit, ob ich Hamburgs Physiognomie überhaupt gut genug kenne. Um so mehr erschrak ich plötzlich vor Bismarck, der mir so noch nie aufgefallen war: Als wuchtiger »Feldgrauer« wand er mir entweder genervt den Rücken zu oder blickte mit mir in Richtung Sonnenuntergang – er kam mir so groß vor, als überragte er sogar unseren Turm. Mir schien unerhört, ihn im Stadtmodell übersehen zu haben.
沪
16:30 POS-Plaza, Pudong 浦东浦项广场
Die Stadt HamburgShanghai gibt es wirklich, sie erstreckt sich über wenige Quadratmeter, hoch über dem Boden, mitten im Zementwald von Pudong. Die Repräsentanten Hamburgs pflegen das, was ich für hanseatisches Benehmen halte, und die chinesischen Mitarbeiter verfügen über eine Ortskenntnis, als wären sie allesamt zwischen Elbe und Alster aufgewachsen. Hier ist es nicht völlig bedeutungslos, ob man nun aus Poppenbüttel stammt, aus Norderstedt oder Ottensen, diese kleinen Informationen werden aufmerksam gespeichert, auch wenn sie hier, an einem weit entfernten Flußufer, eigentlich nutzlos sind. Mir kommt es vor wie an Bord eines Boots, in dem ein kleines Restaurant eröffnet wurde, sein Name steht in chinesischer Umschrift auf einem alten Rettungsring geschrieben: »A Er Si Te«. Es gibt ein Gegenstück dieser kleinen Welt im Großen, und zwar in einem Büroraum mitten in der Hamburger Altstadt – dort würde man verständnisvoll nicken, wenn ich erwähnte, eher ein »Hongkou-Typ« zu sein als ein »Xujiahui-Typ«. Auch dieses ShanghaiHamburg ist ein kleines Schiffchen voller Ortskennern mit direktem Draht zur jeweils anderen Seite, die sich ihren Weitblick genauso erhalten haben wie ihre Chauvinismen – für mich eine Konstellation, in der mein Gefühl als Variable definiert ist, deren Wert in atemberaubendem Tempo zwischen »fremd« und »heimisch« hin und her flackert. Das Bild bleibt auf »Jungfernstieg« stehen.
HH
10:30 in einem internationalen Café
Wie die Pilze schießen diese Cafés jetzt aus dem Boden, überall auf der Welt. Alle Filialen sind im Großen und Ganzen gleich eingerichtet, englische Muttersprachler werden wahrscheinlich bevorzugt für den Tresendienst eingestellt. So kommt es, daß ich mich beim Eintreten fühle wie auf Botschaftsgelände, an dem heimische Gepflogenheiten bedeutungslos sind, die mich soeben gezwungen haben, hierher zu fliehen: in dem gemütlichen, altmodischen, eleganten und bodenständigen Café, das ich mir ausgesucht habe, um diesen Text zu Ende zu schreiben, ist das Benutzen von Laptops untersagt. Wäre nicht der Blick aus den Panoramafenstern, würde ich jetzt nicht wissen, wo ich mich befinde, außer irgendwo im globalen Raum, einer autonomen Zone, in der angenehmes Freiheitsgefühl sich mischt mit Tristesse über die Entwurzelung von der Polarität eines ganz genau bestimmten Ortes, den man zu kennen glaubt wie keinen anderen. Ebenso könnte ich jetzt in Shanghai sein, stelle ich mir vor, auch dort böten sich mir diese weichen Sessel, die gleichen Tassen mit dem gleichen, mittelmäßigen Kaffee. Hier wie dort befällt mich eine Leere, die dadurch zu entstehen scheint, daß Fernweh und Heimweh sich gegenseitig auslöschen, Dasein und Nirgendwo sich plötzlich und wie selbstverständlich in einem gemeinsamen Ort manifestieren. Durch dieses Gefühl scheint jedoch schon ein anderes hindurch: Eine Offenheit, die es mir erlaubt, jetzt die Tür zu öffnen und an einem völlig anderen Ort auf die Straße zu treten und mich weiter fortzubewegen. Vorbei an den neuen Hochhausbaustellen steuere ich mein Fahrrad Richtung Nanpu-Brücke. Die Fähre ist die ganze Nacht hindurch aktiv.
Erstveröffentlichung in „HamburgShanghai - ein gemeinsames Buch zur Partnerschaft“, Herausgeber: Hamburg Liaison Office Shanghai, Hamburg 2006. ISBN: 978-3-00-018824-4
Auszüge aus „Der simultane Flaneur – unterwegs in Hamburgshanghai” ein/ausblenden
Roman Wilhelm
»Im Gleichschritt schlendern – unterwegs in Hamburgshanghai und Berlinhongkongbeijing« ist ein Beitrag zu der Ausstellung 城市漫步 - City Moves - Urban bewegt (20. März–9. April 2010 in der Gallery CON.form Architects, Berlin).
Links zum Thema
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Website von Roman Wilhelm
- Roman Wilhelm beim Deutsch-Chinesischen Kulturnetz: Tahoma, Times, Simsum: Wer passt zu wem?