Die Arbeit der chinesischstämmigen Diplom-Designerin und Künstlerin Wu Yimeng beschäftigt sich mit der Frage nach der Wechselwirkung zwischen Menschen und ihren Orten. Im Rahmen eines urbanen Experiments war sie im Jahr 2008 drei Monate lang in den Städten Shanghai und Berlin unterwegs – auf der Suche nach Menschen, die bereit waren, ihr einen jeweils ganz persönlichen Ort in der Stadt vorzustellen. Auf diese Weise besuchte sie jeweils 20 Orte in jeder Stadt - und setzte diese anhand von Erinnerungen und Erzählungen ihrer Begleiter künstlerisch um.
„Random Tours – 20 Orte in Shanghai & Berlin“ besteht aus einer Ausstellungsinstallation auf drei Ebenen: Auf der Bildebene finden sich 3 x 5 Meter große Bildinstallationen mit 20 + 20 Orten. Diese 20 Orte jeder Stadt wurden nach ihrer geografischen Lage zueinander an die Wand gebracht, so dass sie einen individuellen Stadtplan ergeben. Der geografischen Ebene wird durch eine Bodeninstallation entsprochen: Die große Tapeinstallation zeigt die geografischen Lage der Orte und den Ablauf der „Random Tours“. Die Überlappung der Städte Shanghai und Berlin im Maßstab 1:1 weist die unterschiedlichen Dimensionen der Städte auf. In der Begleitbroschüre vor Ort finden sich auf narrativer Ebene schließlich die Beschreibung Wu Yimengs Begleitpersonen und die Geschichten zu den Orten wieder.
URBANE VERWANDLUNG – Orte der Erinnerung und Transformation in Shanghai und Berlin.
Die gebürtige Shanghaierin Yimeng Wu lebt seit ihrem neunten Lebensjahr in Deutschland. Sie studierte Visuelle Kommunikation an der Universität der Künste Berlin. In ihrer Diplomarbeit setzte sie sich mit der Wechselwirkung von Individuen und ihren Orten im städtischen Raum auseinander. Anhand eines urbanen Experiments namens „Random Tours“ verglich sie Existenzformen in Shanghai und Berlin miteinander. Eine mosaikhafte Bestandsaufnahme über urbane Lebenssituationen, die von globalen und lokalen Tendenzen geprägt sind.
Ein Gespräch über urbane Verwandlungen.
Yimeng, Du kommst gerade aus Shanghai zurück. Wie provinziell ist Berlin?
Wenn man den Kontrast zwischen den Städten vor Augen hat, schon ein bisschen. Es ist alles sehr klein hier. Heimelig. Überall ist es grün. Fast ein bisschen ländlich. Aber das ist nur die Oberfläche. Beide Städte stecken seit zwanzig Jahren in unglaublichen Transformationen. Hier die Überreste zweier Staaten, die es nicht mehr gibt und die immer noch zusammenwachsen müssen, die noch immer Versatzstücke aufweisen, unverheilte Wunden. Dort die wirtschaftliche Öffnung. Das Paris des Ostens. Die zweite Renaissance...
Es sind Städte der Verwandlung...
Ja, aber das bringt sie nicht zusammen. Sie lassen sich nicht so einfach zusammenbringen. Vielleicht überhaupt nicht. Deswegen ist es in der Arbeit auch eine Gegenüberstellung. Sie sollen für sich stehen.
Wie funktioniert diese Gegenüberstellung? Was ist das Prinzip?
Ich habe die Städte auf Grundlage der Erfahrungen der Menschen mit ihren Orten verglichen. Die Menschen, die ich traf, hatten ganz individuelle Geschichten, die vielschichtig und wandlungsfähig waren. Widersprüchlich wie die Lebensräume selbst. Sie kannten die Geschichte ihrer Orte, weil sie ihre eigene Geschichte kannten.
Waren das zufällige Begegnungen?
Ja, aber dieser Zufall folgte strengen Regeln. Ich startete jeweils am ältesten Punkt der Stadt. Ich nahm den Ort sorgfältig wahr und achtete auf die Menschen, die dort ihrer Dinge nachgingen. Ich suchte mir jemanden heraus, der freundlich und einheimisch aussah und fragte ihn, ob er sich in der Gegend auskenne und ob er mir einen Ort empfehlen könne, der ihm etwas bedeutet. Die Menschen berichteten mir ihre Geschichten zu diesem Ort und ich machte mich auf den Weg, ihn zu entdecken. Dort angekommen startete ich von vorn, insgesamt zwanzig Mal pro Stadt.
Vierzig Orte auf zwei Kontinenten. Verschwimmen da die Grenzen?
Nur in kurzen Augenblicken. Es gibt Orte in Shanghai, da denkst Du nicht, dass Du in China bist. Aber das ist nur die Bildebene. Es sind andere Menschen und es passieren andere Geschichten.
Was ist das für ein Unterschied? Ein äußerlich oder ein innerlicher?
Er ist eingewoben. Die Geschichten der Menschen und der Orte sind eingebettet in die Stadtgeschichte. Ich traf in Berlin eine Frau, für die war die Oberbaumbrücke der Inbegriff der Freiheit. Das lag einfach an der Geschichte. Sie kam aus Kreuzberg und konnte ihre Tante in Friedrichshain über viele Jahre nicht besuchen. Wenn sie heute über die Brücke geht, ist das noch immer etwas Besonderes für sie. In Shanghai wiederum traf ich eine Frau, die ihr Leben lang in einer Bonbonfabrik gearbeitet hat. Die Fabrik gibt es heute nicht mehr, stattdessen stehen dort Wolkenkratzer. Die alte Frau geht gern dort spazieren, weil sich Shanghai für sie zum Guten gewandelt hat, auch wenn sie selbst noch immer in einem dunklen Zimmer lebt, ohne sanitäre Einrichtung, ohne elektrisches Licht.
Die negative Seite des Fortschritts ist ja die Auslöschung...
Das stimmt. Ich fand viele Orte, die es gar nicht mehr gab. Orte der Erinnerung. Durch neue Architektur, aber auch durch Überschreibungen der Handlungsräume. Damit verschwindet Identität. Meine Arbeit ist auch der Versuch, ein Stück Geschichte festzuhalten, indem ich den Menschen die Möglichkeit gebe, sie zu erzählen.
Das ist die Perspektive der Beobachterin. Inwieweit bist Du denn selbst Teil der Transformation, ist die Transformation Teil von Dir?
Natürlich ist diese Arbeit auch eng mit meiner eigenen Geschichte verbunden. Als ich sieben oder acht Jahre alt war, stand ich mit meiner Mutter am Bund, auf der Kolonialseite des Huangpu. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses war nichts. Dann ging ich zwei Jahre nach Deutschland und als ich wiederkam, war da die Skyline. Vom Nichts zur Megacity. Durch Deutschland erlebe ich Shanghai in diesen enormen Sprüngen. Eine Stadt, in der alle drei Monate die Stadtpläne gewechselt werden.
Da gibt es ja auch eine Parallele zur Maueröffnung in Berlin...
Ja, stimmt. Da änderte sich auch alles in einem einzigen Moment. Die Menschen wurden zu Fremden in der eigenen Stadt. Eben noch läufst Du durch Deinen Kiez, dann biegst Du um ein, zwei Häuserecken und plötzlich bist Du mitten im Neuland. Oder auch die vielen Umbenennungen im Osten, die jegliche Orientierung auf Stadtplänen und im öffentlichen Nahverkehr unmöglich machten.
Diese Umbenennungen, das ist interessant. Das hat ja auch etwas mit einem Zaubermythos zu tun.
(lacht) Du meinst Rumpelstilzchen?
...verrat mir Deinen Namen und ich erkenne Dein Wesen...
Naja, in Berlin hat man ja vorwiegend Namen von Personen gegen die Namen von schöneren Personen getauscht. In Shanghai passiert ein radikalerer Umbruch. Da werden Straßen zu Marken. Fantastraße zum Beispiel. Das habe ich sonst noch nirgendwo gesehen. Eine dreiste Art der Übernahme des öffentlichen Raums.
Auch in Berlin gibt es Orte wie das Sony-Center und nur unweit davon entfernt wird am Leipziger Platz die Stadt selbst durch bespannte Hohlräume simuliert. Eine Reduktion auf Schauseiten. Ist das das fehlende Bindeglied?
Du suchst immer noch nach einem Bindeglied (lacht). Ich weiß nicht, natürlich sind wir alle miteinander durch ein globales Wirtschaftssystem verbunden. Aber in China ist es akuter als in Berlin. Europa war immer schon offen, China bricht erst jetzt auf. Das setzt eine brachiale Kraft frei. Shanghai ist eine Stadt, die ganz viel nachholen muss. Ein Symptom davon sind übermenschliche Werbebotschaften von Luis Vuitton. Mit unerschwinglichen Produkten an westlichen Models. Und das macht natürlich auch etwas mit den Menschen, es verwandelt sie. Berlin erscheint mir da viel harmloser.
Die Verwandlung, das ist ja ein ganz klassisches Motiv. Ist diese städtische Transformation poetisch? Oder dramatisch?
In China ist sie poetisch, weil sie keine Grenzen kennt. Die Stadt wird dominiert von einer Gigantomanie. Dramatisch ist sie eher in Berlin. Das Stadtschloss zum Beispiel...
Wäre das in Shanghai vorstellbar gewesen?
Niemals. Das ist eine kulturelle Frage, in China wurde immer alles erneuert. Die Welt ist eher zirkulär, nicht so linear wie hier in Europa. Sie ist immer im Wandel, man wird nicht versuchen, etwas aufzubauen, was nicht mehr der Zeit entspricht. Ich finde es unverständlich, dass man in Berlin versucht, einen wichtigen Teil der Stadtgeschichte zu negieren, den Charme, die Widersprüchlichkeiten auszulöschen und stattdessen etwas völlig Fremdes herzuholen.
Aus gestalterischer Sicht: Was ist Deine Vision für Shanghai und Berlin?
Ich würde mir für beide Städte wünschen, dass sie unfertig bleiben. Unperfekt und rau. Weil dadurch Plätze gegeben sind für die junge Generation, so wie uns, selber daran mitzubauen. Um nicht immer den Ballast der Geschichte zu haben. So wie in Paris, wo alle Fassaden perfekt sind, mit Glamour bestückt. Kultur besteht aus Reibung und Widerständen.
Interview Heiko Müller , erschienen in Eigenart UdK, Februar 2009
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